Im Deutschen unterscheidet man zwischen Erinnerung und Gedächtnis. Während Ersteres im Hinblick auf Kultur und Geschichte das Nachdenken und den Austausch persönlicher Erfahrungen meint, die man durchaus mit anderen teilen kann, versteht man unter Letzterem ein Programm zur Selbstbindung größerer „Wir“-Gruppen, etwa die diversen Rituale, mit denen Nationen ihre Vergangenheit lebendig halten. Wenn wir in der Ausstellung von Christophe Ndabananiye stehen, müssen wir diese Deutungsmuster neu fassen, und dies ist auch gut so.
Ndabananiye gräbt, wie Bonaventure Soh Bejeng Ndikung treffend beschreibt, nicht nur tief in die Geschichte, sondern auch in die eigene Seele. Er beschreibt, wie Ndabananiye zurückschaut, um über die Vergangenheit nachzudenken und um seinen Platz zu finden in etwas, was man wahrscheinlich als Gegenwart beschreiben würde. Er verarbeitet in seinen formal diversen künstlerischen Arbeiten Themen traumatischer Erfahrungen im Zusammenhang mit Flucht, Familie, Muttersprache und verbindet sie mit seinem jetzigen Leben in Europa. Die Situation ist komplex und die künstlerische Form, die er dafür findet, ist konsequent. Der Titel dieser Einzelausstellung im Kunstverein in Hamburg, 11° 40′ S 27° 29′ O, zeigt die Koordinaten seines Geburtsortes Lubumbashi in der Demokratischen Republik Kongo. Dies ist der Ausgangspunkt, an dem die physische und psychische Reflektion beginnt, von dem die einzelnen Erzählungen ausgehen und die den räumlichen Prozess des Lebens metaphorisch aufnimmt.
In seinen malerischen Arbeiten spielt die Abstraktion eine entscheidende Rolle. In der Serie Selbstportrait III (2012-18) verbindet er Porträtmalerei mit Abstraktion. Sie sind in einer Mischtechnik aus Teer, Emaille und Öl entstanden, die sich pastos über die Leinwand ziehen. Ausgehend vom Titel meint man in den dunkelgrünen Formen Porträts oder Silhouetten zu erkennen. Wenn man diesen Gedanken weiterführt, kann es sich auch um Umrisse, also auch um das Auslöschen eines Porträts handeln. Es mag hier um die Unsicherheit und um die Verletzlichkeit von Identität gehen. Das erinnert unweigerlich an die Anfänge der (politischen) Abstraktion und an Kasimir Malewitsch. Ein gemeinsames Ziel des Suprematismus war es sich von der Vergangenheit zu lösen, um eine sozialistische Zukunft zu gestalten. In Russland geschah dies durch eine radikale Negation der Vergangenheit bei gleichzeitigem Rückblick auf diese, wie Marc Chagall es tat oder wie Walter Benjamin es in seiner berühmten Beschreibung des Angelus Novus von Paul Klee beschreibt. Das ist auch für Ndabananiye der Weg, sich den Komplexitäten der Gegenwart konzeptuell zu nähern. Der Künstler ist in seiner Kunst von politischen, aber auch sehr von philosophischen Gedanken bestimmt. Für Malewitsch sollte die Abstraktion den Künstler von der figurativen (d.h. reaktionären) Darstellung befreien. Für Ndabananiye hingegen geht die Abstraktion von Lebensweisen aus, die mit Migration und Entwurzelung zu tun haben, um Raum für Reflexion zu schaffen, ohne ihre Grenzen genau definieren zu müssen. Hier scheint das Selbstporträt auf eine Freiheit von der Repräsentation von außen, auf eine unfixierte und losgelöste Identitätsbildung zu schließen.
In der Serie Kucheza (2015), was in Swahili „spielen“ bedeutet, malt er auf dem fragilem Material Styropor in den Farben Dunkelgrün und Ocker. Diese vier Assemblagen tragen keine figürlichen Züge mehr, sondern vereinen verschiedenen Alltagsmaterialien, die im Styropor eingelassen sind oder aus ihm herausschauen, um dann wiederum übermalt zu werden. Hier definiert sich Identität anders als in seinen „Selbstporträts“, und doch lässt sich auch hier ein klarer Realitätsbezug erkennen. Styropor wurde 1951 erstmals bei BASF entwickelt und ist auf der einen Seite hart und spröde, dann aber wieder relativ durchlässig für Sauerstoff und Wasserdampf. Obwohl Styropor leicht fragmentiert werden kann, dauert es Jahrhunderte, bis es sich vollständig auflöst. Aufgrund dieser Materialeigenschaften können wir es als eine treffende Metapher für nationale Grenzen und dem Spiel zwischen Räumen – der einen oder anderen Seite – lesen, an dem Ndabananiye interessiert ist.
Die Arbeit Milango (2018) besteht aus 11 Türen, die Ndabananiye während seines Aufenthalts in Florenz entdeckt hat und die jetzt im Ausstellungsraum liegen oder an die Wand gelehnt werden. Die Tür markiert die Grenze zwischen Drinnen und Draußen, zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, zwischen dem, was nicht dazu gehört und dem, was dazu gehört. Bonaventure Soh Bejeng Ndikung macht darauf aufmerksam, dass die Tür als symbolische Schwelle kein afrikanisches Konzept ist und so liegen oder stehen die Türen auch funktionslos im Raum. Was bedeutet es, wenn Grenzen verschwinden, evoziert es Unsicherheit oder bringt es Freiheit? Das bleibt notgedrungen in der Schwebe und stelle dabei essentielle Fragen, die aktueller nicht sein könnten. Wir finden an diesen Türen Koordinaten geschrieben. Man kann es in all seinen Arbeiten als eine mentale Topografie von Orten wie Kigali und Gisakura, aber auch von Detmold und Bayreuth bezeichnen, die wenn man sie mit Gedanken füllt, eine unendliche Vielzahl von Geschichten zu erzählen hat, aber insbesondere die von Exklusion und Identität.
Mon point de vue I et II (2012) zeigt zwei Leinwände, auf denen Bootslack quasi nach oben in den Himmel und wird so auf dem gelblichen Hintergrund zu einer urwüchsigen Landschaft, in der Kultur und Natur eine Symbiose eingehen. Eine abstrakte Landschaft aus der persönlichen Perspektive des Künstlers, der das persönliche im Titel der Arbeit auch deutlich zum Ausdruck bringt.
In seiner neuen Serie von Malereien, Ohne Titel (2019), die aus 18 Leinwänden besteht und erstmals im Kunstverein in Hamburg ausgestellt wird, geht es auch um Abstraktion, Landschaften und Koordinatensysteme, die dieses Mal in der Abstraktion verbleiben. Ndabananiye arbeitet auf diesen Leinwänden mit einer Mischtechnik von verlaufenden Ölfarben und Klarlack. Der Klarlack lässt die Leinwände sich zusammenziehen, sich schrumpfen, es sieht unfertig aus, teilweise falsch und doch dem Leben angemessen. Die Arbeiten sind so offen und damit in ihrer Art auch großzügig, dass sie kontinuierlich neue Perspektiven aufzuwerfen vermögen.
Text für die Einzelausstellung von Christophe Ndabananiye „#UNFINISHED-TRACES – Christophe Ndabananiye – 11°40′S 27°29′O“ im Kunstverein in Hamburg
Von Bettina Steinbrügge (2020)